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 Begleitumstände – Einleitung zu den Reflexionen von Francesc Abad

Die hier veröffentlichten Reflexionen von Francesc Abad gehen zurück auf eine Debatte um das philosophische Erbe Walter Benjamins, die am 7. Oktober 2010 im Goethe-Institut Barcelona stattfand. Für den Internet-Auftritt der Collage „Korrespondenzen Abad-Benjamin“ hat der Autor die damals geäuβerten Überlegungen erweitert. Das Ergebnis ist ein wahrhaftes Manifest seiner künstlerischen Arbeit. Es war der Wunsch Francesc Abads, dass zur Einleitung die damals aufgeworfenen Fragen, die den Anstoβ zu seinen Gedanken gegeben haben, zusammengefasst würden.

Um dem facettenreichen  Denken Walter Benjamins gerecht zu werden, wurden im Rahmen der Hommage zum Gedenken seines 70. Todestags Vertreter verschiedener Disziplinen zu einem Gedankenaustausch über die Grenzen der Fachrichtungen hinaus eingeladen. Es trafen sich also ein Künstler, dessen Werk weitgehend von Benjamins Geschichtsphilosophie und Ästhetik geprägt ist (Francesc Abad), eine Kunsthistorikerin und Kennerin der zeitgenössischen Kunstszene (Pilar Parcerisas), ein Philosoph, der sich vor allem mit Fragen der Ästhetik und Ethik beschäftigt (Gerard Vilar), und ein Geschichtsphilosoph, der ausführlich Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ kommentiert hat und auch in die aktuelle Debatte über den Umgang mit der Vergangenheit des Franquismus und des Holocaust eingreift (Reyes Mate).

Unter dem Thema „Gefahr und Erkenntnis. Die Aktualität Walter Benjamins“ wurden unter anderem folgende Fragen zur Diskussion gestellt:

Den Übersetzungen und dem Einfluss seines Werks nach zu urteilen, ist die Benjamin-Rezeption in Katalonien und Spanien bis auf den heutigen Tag äuβerst umfassend und lebendig. Welche Rolle spielt dabei der Umstand, dass der Philosoph an der französisch-spanischen Grenze in Portbou auf der Flucht vor dem Faschismus ums Leben kam? Welche Art von Interesse weckt Walter Benjamin in diesem Land? Welche Aspekte stehen im Mittelpunkt der Rezeption? Trägt sein Gedankengut etwas zu aktuellen Fragestellungen bei? Insbesondere ging es um den Stellenwert der Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ für die aktuelle Diskussion über den Umgang mit der nationalsozialistischen und franquistischen Geschichte und die Relevanz von Benjamins Kunsttheorie für das zeitgenössische Kunstverständnis.

 

Walter Benjamins Denken ist interdisziplinär und, ebenso wie die essayistische und aphoristische Form seines Schreibens nicht mit orthodoxen akademischen Standards zu vereinbaren. Es lässt sich nicht einordnen. Benjamin war Philosoph, Literat, Übersetzer, Sammler, und Reisender, stand sowohl der jüdischen Mystik als auch dem Marxismus nah. Seine Studien umfassen so weit entfernte Epochen wie das Barockzeitalter und die deutsche Romantik, das Paris des 19. Jahrhunderts, die russische Revolution und die Zwischenkriegszeit im 20. Jahrhundert. Benjamin entwickelte eine Sprachphilosophie, eine Theorie der Allegorie und des „dialektischen Bildes“; er dachte nach über die Veränderung der Wahrnehmung im Zeitalter der Industrialisierung; er beschrieb die Physiognomie realer und onirischer Orte; er analysierte die ästhetischen und sozialen Veränderungen des Kunstwerks unter dem Einflus der neuen Reproduktionstechniken; er befasste sich mit Fotografie und Kino, konzipierte eine dem linearen Fortschrittsbegriff entgegengestellte Geschichtsphilosophie und hinterlieβ sein alle philosophischen Konventionen sprengendes Projekt der „Passagen“ als Modell einer neuen Denkweise.

Walter Benjamins Ästhetik und Geschichtsphilosophie berühren sich in verschiedener Hinsicht. Sie entstanden im Bewusstsein aktueller Gefahr für die Menschheit im Zeitalter einer schwindelerregenden Modernisierung. Benjamin ist ein Chronist vom Verschwinden bedrohter Welten, ein Erforscher der Erinnerung. Zugleich erkennt er in der Gefahr des Auseinanderfallens alter Verhältnisse die Möglichkeit, eine bislang nicht erkennbare Bedeutung der Dinge in neuen Konstellationen wahrzunehmen, den verheerenden Lauf der Geschichte anzuhalten und zu ändern. Das Thema „Gefahr und Erkenntnis“ war geeignet, die verschiedenen zur Debatte stehenden Aspekte des benjaminschen Werks zu umfassen.

Schlüsselbegriffe der Debatte waren: Augenblick, Zeit, Erinnerung, Jetztzeit, Aneignung der Vergangenheit, Konstruktion, „zitieren“ statt „erklären“, Fragment, Ästhetik und Politik.

C. K.

 

 

Wer heute die Lüge und Unwissenheit bekämpfen und die Wahrheit schreiben will, hat zumindest fünf Schwierigkeiten zu überwinden. Er muss den  Mut  haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird; die  Klugheit,  sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird; die  Kunst,  sie handhabbar zu machen als eine Waffe; das  Urteil,  jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die  List  sie unter diesen zu verbreiten. Diese Schwierigkeiten sind gross für die unter dem Faschismus Schreibenden, sie bestehen aber auch für die, welche verjagt wurden oder geflohen sind, ja sogar für solche, die in den Ländern der bürgerlichen Freiheit schreiben.

 

(Bertolt Brecht: Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit)

http://www.gleichsatz.de/b-u-t/spdk/brecht2.html

 

Francesc Abad

Notizen zur Debatte: Gefahr und Erkenntnis. Die Aktualität Walter Benjamins 

 

Ein Anliegen: Walter Benjamin, jemand der Abfall verwendet.

 

 >Parany< [Falle] 1986         

>Spuren<1988 

>La línea de Port-Bou< [Endstation Port Bou] 1991

>Wart-War<2000, interaktive Arbeit

>El camp de la Bota<2004

>block WB< 2005, Granollers 2008, Berlin 2010

 

„Vergangenes historisch artikulieren heiβt nicht, es erkennen ‘wie es denn eigentlich gewesen ist’. Es heiβt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. (...) Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.”-VI. These

 

Vielleicht ist eine Antwort die Intuition, die Intuition als Erkenntnisweise, zunächst als kognitiver Prozess, vom Morphem zum Phonem, der kleinsten Bedeutungseinheit in der Sprache zur kleinsten Einheit in der Analyse der ersten sprachlichen Äuβerung, die Erfahrung der Mündlichkeit, das viele Jahre hindurch Gehörte, in einem Hof, unter dem Baum des Hauses in einer Arbeitersiedlung [casal anglès], was den Korpus einer Arbeit geliefert hat, das Elementarste, wo aber ein Gewebe entstanden ist, in dem die Synchronie INTUITION-PHONEM-MORPHEM fundamental ist. 

 

„eine Konzentration von Hoffnungen bei den outsiders“

 

              ERFAHRUNGSBEGRIFF

Unterhaltungen zuhören, Erzählungen, sonntagsmorgens, unter einem Kakibaum, Erzählungen von Leuten, die den Krieg verloren haben, von Verletzlichkeiten, Verlusten und Erinnerungen, wo das individuelle und kollektive Gedächtnis, die Geschichte und das künstlerische Schaffen schlieβlich einen ORT bilden. Das persönlich Erlebte in seiner Zerbrechlichkeit, ERLEBNISSE und ERFAHRUNGEN, die von Generation zu Generation weitergegebene Erfahrung haben ein Gefühl von Vergangenheit und Zukunftserwartungen geschaffen. ERFAHRUNGEN, durch kulturelles Bewusstsein vermittelte Erfahrung, „der Sockel“ eines Gebäudes, die Lebenswelt einer Welt im Widerstand, wo noch dasjenige Bewusstsein fortlebt, das jetzt in Gefahr ist.

 

Und all dies ist mir erst vor Kurzem klar geworden.

 

                       ARBEITSWEISEN

Die Kunst kann auch ein Vektor der Gegenerinnerung sein, das heiβt, sie kann einer verschütteten Erinnerung Ausdruck verleihen, einer verborgenen Erinnerung, einer utopienschwangeren Erinnerung in einer Zeit, wo es keine mehr gibt (Enzo Traverso). Die Subjektivität, die Intuition können den Kampf gegen den Dissens in einer paktierten Welt (der leeren und homogenen Zeit) vorantragen.

 

„Fundbüro“ oder Büro „des objets trouvés“.

 

Wie man ein Bild macht, die Arbeit mit Schichten, mit palimpsestartigen Fragmenten von Wirklichkeit, mit einer Zusammenstellung aus der Verbindung von Zitaten stehender Bilder, von Bildern in Bewegung, Texten, Klängen, Aneignungen, Transtextualitäten, die alle zusammen einen „EINFALL“ bilden, wie Aby Warburg sagen würde.

Sie bilden „STÜCKE“, wie Pina Bausch sagen würde.

Die Kritik der instrumentellen Vernunft der Frankfurter Schule.

Ein tragbares Archiv zusammenstellen, das den Begriff der Weltlosigkeit, des Paria in Hannah Arendts Sinn enthält – den Essay als Form von Th. W. Adorno – die Montage von J. L. Godard – das utopische Drängen von Ernst Bloch – die Bedeutung der symbolischen Ordnung von Lévi-Strauss – den Begriff der Subalternen von Gayatri Chakravorty Spivak – das Fragment von Warlam Schalamow – die Frage Walter Benjamins, wie und warum die Zeit zu unterbrechen ist.

Diese Art zu denken erinnert aber auch an meine eigene persönliche Erfahrung (ERLEBNIS), enthält die Erinnerung an meine Arbeit in der Fabrikwelt, daran, wie man einen Stoff webt: zunächst ist da das Material, das man mischen muss, indem man Schichten unterschiedlichen Materials übereinanderlegt, um am Ende das Bild zu erhalten – das Gewebe.

 

                                   Bilder weben   DENKBILD

Ein Denken in Bildern, wie es an Benjamins Arbeitsweise im Buch der Passagen erinnert, „Denkbild“, ich arbeite über Benjamins Denken. Es gibt von mir keine konkrete Arbeit über seine Person. Es geht darum, wie sich seine Arbeitsmethode strukturiert, seine Auffassung von Gegenwart-Vergangenheit-Erinnerung-Zeugenschaft und seine dialektische Fähigkeit, Textfragmente als Bilder zu zeigen, eher eine Konstruktion, eine WERKSTATT als ein abgeschlossenes Kunstwerk.

 

„Man muss die Geschichte gegen den Strich bürsten.“

Ein endloses Band von ÄUSSERUNGEN und ZITATEN, ein Gewebe von Wesen und Dingen, das gedacht und wiedergedacht wird ohne je zu Ende zu kommen, die Prekarität wiederdenken, die Erinnerung, das Exil, den Schmerz, die Kritik der instrumentellen Vernunft, den Fortschritt, das Einheitsdenken; LEBENSWELT, diese Schichten, Segmente, Vielfältigkeiten, wie beim Blätterteigkuchen, im Kaffeesatz, abgerissene Lumpen. Eine Weise, um über zu Ende gehende Welten zu arbeiten.

Damit diese ganze essayistische Methode nicht produktiver Arbeit in der Lage ist, einen schöpferischen Dialog mit der Gegenwart aufzunehmen (mit Blick auf Adorno).

 

Wir sind nur „Feuermelder“ (vgl. Reyes Mate über W. Benjamins Thesen).

In einer Zeit, wo die Banalisierung von Problemen, Konflikten und falschen Öffnungen zu einem „blinden Fenster“ ohne Ausblick führt, muss von Neuem die Frage nach der Rolle des Menschen aufgeworfen werden und welche Verantwortung wir in einer globalisierten Welt haben.

„Die Hoffnung ohne Garantien, diese Erwartung einer Zeitenwende, die der Geschichte der Menschen noch einmal die „Chance“ einer neuen Gelegenheit geben würde.“

 (Ricardo Foster: Los hermeneutas de la noche. De Walter Benjamin a Paul Celan. [Die Hermeneuten der Nacht. Von Walter Benjamin zu Paul Celan],Trotta)

 

„Wer wirklich seiner Zeit angehört, ein wirklicher Zeitgenosse, stimmt nicht völlig mit seiner Zeit überein und passt sich nicht ganz ihren Vorgaben an. Insofern ist er unaktuell.

Darum gibt es nur wenige Zeitgenossen. Und darum ist es vor allem eine Frage des Muts, Zeitgenosse zu sein. Denn es bedeutet nicht nur, den Blick in das Dunkel seiner Epoche zu richten, sondern auch, in dieser Dunkelheit ein Licht wahrzunehmen, das, auch wenn es auf uns zukommt, sich doch unendlich entfernt. Das heiβt, pünktlich zu einer Verabredung zu erscheinen, zu der man nur zu spät kommen kann.“

Giorgio Agamben

 

                                               VERGISS ES

„Wer sich nicht in seine Zeit einschreibt, versteht nichts.“

Louise L. Lambrichs.

 

                  EINE DIALEKTIK DER LUMPEN

Jetztzeit- bei Walter Benjamin- die Zeit, in der die Vergangenheit Gegenwart wird,

„JETZTZEIT“ sagt Ernst Bloch- „bedeutet eine Zeit, in der Längstvergangenes plötzlich ein Jetzt wird“.

 

Das Fragment als Wille zu einem dialektischen Ganzen

  1. Bilder im Dialog, eine Mischung, das Paradox antagonistischer Bilder, die Zusammenstoβen um eine Konstellation zu bilden (Fragment=Blitz). Durch Empatie, durch Verbindung, durch Assoziation.
  2. Fähig, die Dichte des Kontinuums, des Korpus der akademischen Arbeit, durch Diskontinuität, Flüssigkeit, Interdisziplinarität zu tragen, wie ein dem homogenen Denken aufgepropfter Reis der Veränderung.

 

Ein Denken als BILD, die IMAGO von Resten, eine Veränderung (am Zweig), damit der Blick nicht so homogen und heliozentrisch ist.

Ein Blick auf Reste, in Schichten zusammengefasst, die erst dann Festigkeit erlangen, wenn sie immer wieder neu gedacht werden.

Als Kontinuum, ohne Ende und daher ohne Schlusssfolgerung.

Zyklisch, wie der Kommentar des Kommentars. Um den Kommentar zu sozialisieren.

Das Fragment wird zum dialektischen Bild, es darf aber nicht als kompaktes Gebäude gedacht werden, sondern nur als Fundament eines im Bau befindlichen Gebäudes. Jeder Diskurs hat einen Dekurs.

 

                                                                                                          Februar 2012

 

BUILDING – BILDUNG

[46] „Produktion“, Denktagebuch 2000 – 2005

 

Die Zeichnung (die auf das Jahr 1986/87 zurückgeht) ist eine Antwort auf die Frage, wie der Fordismus bildlich darzustellen ist. Sie benutzt eine Metapher aus der Textilindustrie, nämlich die Art, verschiedene in Schichten übereinandergelegte Materialien zu vermengen, um den Faden herstellen und mit ihm weben zu können. Einem in jüngster Zeit geäußerten Kommentar von F. A. zufolge „handelt es sich um ein Bild, das nun, im Jahr 2010, neu überdacht werden kann und auch auf die künstlerische und philosophische Arbeitsweise anzuwenden ist (man denke an W. Benjamin, A. Warburg und Begriffe wie Konstellation, Fragment, Assoziation). Vermengen ist eine Arbeitsweise und eine Denkweise: mischen, unterschiedliche Sachen zu einem Ganzen vereinen. Barreig [Gemenge]bedeutet Pompeu i Fabra zufolge Durcheinander, Kampf.“

 

„1999 Palimpsest

Foto Sortiment / Video

Die Erinnerung ist eine topografische Landschaft

 

1986/1987

Ursprüngliches Projekt

 

-Multiplizität

-Schichten

-Segmente

-einander entgegengesetzte Begriffe

= die Dinge mischen

die Mischung

verschiedene Schichten der Realität“

 

Unter der Zeichnung:

Uniformität

Domestizierung

Textil     : verschiedene Schichten von Wolle

            Gefühl“

 

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