EXIT

Intuition - Wissen – Reflexion.

Meine Wege zu Walter Benjamin.

Geschichte einer künstlerisch-geistigen Freundschaft in sechs Etappen,

erzählt von Francesc Abad

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Ich möchte hier etwas tun, was ich bisher noch nie gemacht habe, nämlich meine von Walter Benjamin inspirierten Projekte als Wegmarken meiner persönlichen Erfahrung betrachten und dabei ausnahmsweise von mir in der ersten Person sprechen. Ich möchte mich an die Geschichten erinnern, die sich in und hinter den meist längst verschwundenen Installationen verbergen. Verblieben sind mir ein paar Fotos, hier und da ein Video, einzelne Gegenstände, ausgesonderte Kataloge, Überbleibsel von immerhin dreißig Jahren „Zusammenleben“. Ich spüre die Notwendigkeit einzuhalten, zurückzublicken und all die Projekte in ihrer Gesamtheit zu erfassen, die sich auf so unterschiedliche Weise auf den für meinen Werdegang ganz unerlässlichen kritischen Denker beziehen. Erst jetzt, in der Rückschau, bemerke ich, dass diese Reihe von Annäherungen sich als Prozess verstehen lässt und erkenne darin die Wege meiner künstlerischen Erfahrung. Ich werde also versuchen, die Schichten einer dauerhaften geistigen Freundschaft aufzudecken und zu zeigen, wie sie sich im Laufe der Jahre verändert und vertieft hat.

 

Zum ersten Mal habe ich von Benjamin etwas in Marseille gehört, als ich über das Exil in der sogenannten Freien Zone in Südfrankreich während des Zweiten Weltkriegs arbeitete. Benjamin hatte dort, wie so viele andere, die sein Schicksal als Flüchtling und Staatenloser teilten, mehrere Wochen verbracht, während er auf ein Ausreisevisum in die USA wartete. Zunächst interessierte ich mich für seine persönliches Schicksal, weil er zu den Verlierern der Geschichte gehörte, genau wie meine Familie. Meinen Vater hatten sie in den Lagern von Argelès sur Mer und Saint Cyprien interniert. Später erfuhr ich, dass Walter Benjamin sich in Portbou das Leben genommen hatte, als die franquistische Polizei ihm die Einreise nach Spanien verweigerte. Anfang der achtziger Jahre fuhr ich nach Portbou und machte Fotos auf dem Friedhof, wo man einen kleinen Gedenkstein aufgestellt hatte. Was mich anfänglich anzog, war eine Intuition, das ganz starke Gefühl, dass Walter Benjamin etwas mit meiner Biografie zu tun hatte, mit der Geschichte meiner Familie und mit der von unzähligen Menschen in meinem Land, also mit der verschwiegenen Geschichte der Opfer.

 

Parany (Falle), 1986

 

Es war die erste Installation, bei der ich an Walter Benjamin gedacht habe. Der Ausstellungsraum im Col·legi d’aparelladors in Barcelona war so eng, dass die Zuschauer ihn einzeln betreten mussten, fast so als wolle der Raum selbst dem Titel „Falle“ auch physische Realität verleihen. In einem winzigen drei mal drei Meter großen Sälchen befanden sich vier verschiedene Abteilungen. Eine Gruppe bestand aus acht Holzelementen, jedes für sich eine einzigartige Skulptur mit einem Anklang an Art déco. Ich hatte sie im Räumungsverkauf einer kurz vor der Schließung stehenden Kurzwarenhandlung meiner Heimatstadt Terrassa erstanden. Sie hatten wohl als Bügel zum Drapieren von Unterwäsche, Socken und Ähnlichem im Schaufenster gedient. Nachträglich kommen mir dazu Benjamins Figur des Flaneurs und das Motiv des Sammlers in den Sinn.

            An einer anderen Wand hing ein großes Plakat, auf dem Hunderte von unterschiedlichen Pralinen zur Schau gestellt wurden. Es handelte sich um die Werbung einer bekannten Schokoladenmarke. Zwar aus einer anderen Welt kommend spielte doch auch dieses Plakat auf das Sammlermotiv an.

 

            Das zentrale Stück der Ausstellung bildete ein gerahmtes Glas mit einer eingeätzten Maxime Epikurs: „Gefühle gegenüber dem Verstand – Kritik gegenüber den Mythen“. Während die Schrift auf dem Glas selbst kaum zu lesen war, sah man sie deutlich als reflektierten Schatten auf der Wand. Mich interessierte das Phänomen des doppelten Bildes und die Tatsache, dass fast alles eine doppelte Lesart ermöglicht.

 

            An der gegenüberliegenden Seite stand auf einem Sockel das Modell eines Segelschiffs. Eine darunter angebrachte Metallplakette trug die Inschrift „Walter Benjamin“. Nichts weiter wies auf Benjamin hin. Hier ging es mir nicht darum, sein Denken oder seine Begriffe zu verstehen. Ich ließ mich vielmehr von einem Gefühl leiten, das sich mit all diesen Dingen verband. Die Karavelle, die so aussah, als hätten damit vor mehr als vierhundert Jahren Piraten die Meere durchkreuzt, repräsentierte für mich den benjaminschen Geist. Die Schaufensterständer faszinierten mich durch ihre überraschende Schönheit, als wertvolle Träger von Erinnerungen. Genau wie das Sortiment von Pralinen erhielten sie – ihrem Zusammenhang entrissen – eine neue Bedeutung. Beide Elemente begeisterten mich als Bilder, und ohne es zu wissen befand ich mich bereits in der Welt des Flaneurs und des Sammlers, in Walter Benjamins Welt. Dieses erste Stück von mir war vor allem eine phänomenologische Reise, dabei ging es nicht um Benjamins Denken. Zwar bezog ich mich auf Walter Benjamin, aber heute würde ich sagen, dass der Philosoph eher als Vorwand diente. Es ging mir um den philosophisch-poetischen Vorschlag, die Konfiguration des Wissens als Reise aufzufassen und dabei über die möglichen Fallen und Trugschlüsse (Opazität – Transparenz) nachzudenken, die einem am Wegrand auflauern. Die Installation verstand sich als Einladung, einem inneren Weg zu folgen, der dem avantgardistischen Pioniergeist entsprach, aus Entdeckerlust ins Unbekannte vorzudringen. So gesehen, stellte sie eine Hommage an Walter Benjamin dar, ohne dies ausdrücklich zu sein.

 

            Was ist aus all dem geworden? Ein Galerist hat die Arbeit gekauft. Aber die Galerie wurde geschlossen und ich weiß nicht, was danach passiert ist. Von der Installation ist nichts übrig geblieben, absolut nichts. So ist es ja, wie schon gesagt, vielen meiner Stücke ergangen.

 

 

Welfare State o Els herois reals son morts (Welfare State oder Die wahren Helden sind tot), 1987

 

Auch diese Installation gehört zu meinen verlorenen Arbeiten. Es ist mir wichtig, das zu unterstreichen, denn daran sieht man, dass ich nicht zu der Kunstszene gehöre, in der Werke gekauft und verkauft werden. Einzelne Stücke befinden sich im Archiv des Museums von Granollers, wie zum Beispiel das Schild mit der Aufschrift „Welfare State“ und eine Radierung mit einem Zitat aus Karl Marx‘ Aufsatz Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, den Benjamin in den Passagen erwähnt (J 72 a, 4). Ich war auf das Zitat in einer der französischen Zeitschriften gestoßen, die man damals las. Es lautet: „Leidenschaften ohne Wahrheit, Wahrheiten ohne Leidenschaft, Helden ohne Heldentaten, Geschichte ohne Ereignisse; Entwicklung, deren einzige Triebkraft der Kalender scheint, durch beständige Wiederholung derselben Spannungen und Abspannung ermüdend (...) Wenn irgendein Geschichtsausschnitt grau in grau gemalt ist, so ist es dieser.“ Die 1987 in L’Hospitalet (in der ehemaligen Textilfabrik von Tecla Sala) gezeigte Installation verstand sich als Allegorie auf den Wohlfahrtsstaat. Sie bestand aus einem großen Boot, einer tatsächlich noch funktionierenden Kuckucksuhr, einer Machete à la Rambo und ein paar ausgestopften Möwen. Die aus schwarzem Glas angefertigte Platte, auf der von einer silbernen Linie eingerahmt in weißen Buchstaben die Worte „Welfare State“ prangten, imitierte die für die alten Geschäfte Barcelonas typischen Ladenschilder.

 

            Es war meine erste Installation, die eine wirkliche Reise darstellte, genauer gesagt, die Geschichte eines Boots, das einen umgekehrten Weg zurücklegt, vom Wasser in die Fabrik. Das fragliche Boot, ehemals zum Transport von Personen bestimmt, lag abgetakelt im Hafen von Barcelona. Seine letzte Reise führte es vom Meer aufs Land. Ich sehe noch deutlich die Bilder vor mir: wie man das Schiff mit riesigen Kränen aus dem Hafenbecken hebt, während ein Mann im Boot die nötigen Anweisungen gibt; wie man es auf einen Lastwagen verlädt und wie dieser Lastwagen auf seinem Weg nach L’Hospitalet ganz Barcelona durchquert; wie das Boot vor dem Eingang der alten Fabrik steht, die später das Kunstzentrum Tecla Sala werden sollte; wie zwei kleine Kräne auf Rädern das Boot hochheben und kippen, damit es seitlich durch die Einfahrt passt. Dieser Vorgang wurde gefilmt und ist auf der Website des Projekts block W. B. http://www.blockwb.net/ zu sehen. Die dargestellte Reise war eine Reise der Reflexion, eine Rückkehr zur Fabrik, dem Ort der Herstellung. Auch die Fabrik verlor dabei ihre alte Bedeutung, um eine neue zu erlangen. Die Installation erzählt ein Ende und einen Anfang, ohne die Vergangenheit melancholisch zu erinnern. Erneut ist ein Zusammentreffen der Motive Fordismus und Kultur zu beobachten. Zugleich handelt es sich um eine kritische Reflexion über den Wohlfahrtsstaat. Im zitierten Text vergleicht Karl Marx die Menschen mit Schatten, die ihren Körper verloren haben. Im deutschen Original klingt das sehr schön („Menschen und Ereignisse erscheinen als umgekehrte Schlemihle, denen der Körper abhanden gekommen ist“). Ich erkenne in dem Bild mein Motiv der doppelten Lesart, von Körper und Schatten, Opazität und Transparenz. Erläutern muss ich, dass in Spanien im Jahr 1987 der Begriff des Wohlfahrtsstaates ganz neu aufgekommen war. Man hatte gerade erst begonnen, davon zu sprechen und ich wollte wissen, was dahinter steckte. Jetzt haben wir ihn gerade ein paar Jahre gehabt und schon ist es damit vorbei.

 

            Entsprach die erste Installation Falle einem Gefühl, so stellte Welfare State eineReise als objektives Ereignis und kritische Reflexion dar. Ich verbinde diese Reflexion mit Walter Benjamin, besonders mit seiner Kritik des Wohlfahrtsstaates, aber auch mit der Gesellschaftskritik des Instituts für Sozialforschung. Meine zweite Arbeit war, wie man sieht, begrifflicher als die erste.

 

            Genau bedacht, wäre es heute unmöglich ein derartiges Projekt durchzuführen. Schon die erforderlichen Genehmigungen würde man nicht bekommen, man dürfte das Schiff gar nicht aus dem Hafen entfernen und vor allem wäre der Transport heute unbezahlbar. Nicht einmal die ausgestopften Möwen dürfte man heute aufstellen.

            Ein immer wiederkehrendes Motiv meiner Arbeiten ist das der zu Ende gehenden Welten, was auch schon an der vorigen Installation deutlich wurde. Die reflexive Reise des Bootes in umgekehrter Richtung, weg von seiner ursprünglichen praktischen Funktion, handelt erneut von diesem Thema. Und natürlich ist Walter Benjamin, was das Interesse für verschwindende Welten betrifft, für mich ein Hauptbezugspunkt.

 

 

Spuren, 1988

 

Das Stück Spuren ist eins der wenigen, die noch existieren. Es wurde zum ersten Mal in Valencia in der Sala Parpalló gezeigt und befindet sich nun im Archiv des Museums von Granollers. Es besteht aus der mannsgroßen Fotografie eines anonymen Grabes und zwei schwarzen Koffern. Zu allererst muss ich erklären, dass der Titel nicht von Walter Benjamin, sondern von Ernst Bloch stammt. Bloch nannte so eine Sammlung von Gedanken und kurzen Geschichten, die oft wie Parabeln nach einer Interpretation verlangen, halb vergessene Anekdoten aus vergangenen Zeiten oder noch nicht ganz gestaltete Träume einer besseren Zukunft erzählen. 1983 hatte ich die Installation Kultur Zivilisation Ernst Bloch gewidmet. Ausgehend von diesen „Spuren“ wählte ich einen Titel Ernst Blochs zur Benennung eines Stücks über Walter Benjamin, ohne damals zu wissen, dass beide Freunde waren. Das war reine Intuition.

 

            Die Fotografie des Grabes habe ich auf dem Friedhof von Portbou gemacht. Jemand hatte Blumen hingelegt, wohl um die Legende glaubwürdiger erscheinen zu lassen, dass es sich um die Grabstätte Walter Benjamins handelte, eine offensichtlich falsche Legende, die eine Zeit lang kursierte. Die schwarzen Koffer stellen eine deutliche Beziehung zu dem schwarzen Aktenkoffer her, den Benjamin bei seiner Flucht durch die Pyrenäen mitgeschleppt haben soll und der ˗ Lisa Fittko zufolge ˗ Manuskripte enthielt, denen er mehr Wichtigkeit beimaß als seinem Leben. Bei meinen Koffern handelte es sich in Wirklichkeit um Musterkoffer, mit denen ich als Handelsvertreter einer Textilfabrik von Terrassa ganz Spanien bereiste. Man kann sie in der Mitte aufklappen. Mit Kreide geschrieben steht darauf „Institut für Sozialforschung“, in Anspielung an das von Max Horkheimer geleitete und während des Exils nach New York umgesiedelte Institut, dem Walter Benjamin sein Ausreisevisum in die USA verdankte. Die Inschrift ruft die Grenzen ins Gedächtnis, die Benjamin überwinden musste. Auf der Seite jedes Koffers klebt ein Foto des Friedhofs von Portbou. Weiße Gurte mit blauem Rand sichern die Koffer wie für eine weite Reise.

 

            Mit den Koffern und dem anonymen Grab habe ich erneut Elemente verschwindender Welten aufgenommen. Vorhanden sind auch die in meinen Arbeiten immer wiederkehrenden Motive der Erinnerung und des Fordismus. Meine persönliche Erfahrung von der industriellen Arbeitswelt, repräsentiert durch die Musterkoffer, mischt sich mit der Biografie Walter Benjamins und seinem KOFFER mit den Manuskripten der letzten Arbeit. Zumindest heute möchte ich es so sehen: Das Stück zeigt das Zusammentreffen von Fordismus und Kultur, von Kritik des Fordismus und Verteidigung der Kultur. Als ich an Spuren arbeitete, besaß ich bereits gewisse Kenntnisse über Walter Benjamin. Kurz zuvor hatte ich die Installation Blockhaus (Marseille, La Vielle Charité, 1988) beendet. Darin versammelte ich Bilder und Ereignisse aus der sogenannten Freien Zone, wo auch Benjamin sich auf seinem Weg ins Exil ein paar Wochen aufhielt. Ich wusste mehr über sein Leben und hatte einige Aufsätze gelesen, allerdings ganz unsystematisch. Ich betrachte mich keinesfalls als Benjamin-Spezialist. Ich interessierte mich für die Frankfurter Schule, für ihre Kritik der instrumentellen Vernunft, ihren Widerstand gegen die Barbarei, ihren Appell an die Negation. Wichtig war mir auch die Bedeutung, die sie der Sprache beimaß, um Nein zu den herrschenden Verhältnissen zu sagen. Ich hatte etwas von Adorno gelesen, auch von anderen Autoren, aber hauptsächlich Walter Benjamin. Diese Lektüre trug nun die ersten Früchte, gab mir die ersten Hinweise, wo es lang gehen konnte. In einer französischen Zeitschrift hatte ich einen Essay von Hannah Arendt gefunden, wo sie Walter Benjamin als Perlentaucher porträtiert, ein ganz wesentlicher Text. Es gelang mir auch, die Abschrift von zwei auf Französisch verfassten Briefen Walter Benjamins an Jean Ballard zu erhalten, der damals in Marseille die Zeitschrift Cahiers du sud herausgab. Der erste Brief vom Oktober 1939 wurde im Arbeitslager Clos de St. Joseph in Nevers geschrieben, wo Benjamin ein paar Wochen interniert war. Der zweite Brief vom August 1940 kam aus Lourdes, einen Monat vor der gescheiterten Flucht. Allmählich befasste ich mich mit allem, was Walter Benjamin betraf. Spuren war meine erste Arbeit, in der ich das Motiv der Erinnerung und meine persönliche Erfahrung mit einer kulturellen Erfahrung verband und die Spuren beider Stränge verfolgte.

 

 

Endstation Portbou, Hommage für Walter Benjamin, 1990/91

 

Die Installation ging hervor aus meiner damaligen Beschäftigung mit der Geschichte des Exils und wollte Walter Benjamins letzte Erfahrung als Flüchtling ergründen, seine letzte Passage. Die Elemente erinnerten an Orte der Flucht und die letzte unüberwindliche Grenze, die Stadt Portbou, die tödliche Falle. Der Boden des weitläufigen Raums war mit einer blauen, zerknitterten Plastikplane bedeckt – eine Anspielung an das Meer, das auf dem Weg ins Exil überquert werden musste. Eine hölzerne Brücke mit einer Schranke und einem Wachhäuschen standen für die Grenze und die Macht. An den Wänden hingen große Fotografien der Pyrenäen, in die Metallschilder mit benjaminschen Begriffen einmontiert waren. Verschiedene Objekte in Vitrinen sowie ein audiovisueller Teil vervollständigten die Komposition. Ich hatte Benjamins vermutlichen Fluchtweg durch die Berge gefilmt.

 

            Dieses Projekt war schon von einiger Komplexität. Zur Zeit seiner Verwirklichung besaß ich bereits genauere Kenntnisse des Werdegangs und der persönlichen Erfahrung Walter Benjamins. Ich fragte mich, woher er kam und wohin er ging, warum er Frankfurt verlassen hatte, was passiert war – ich wollte einfach mehr wissen über ihn und die Menschen, die ihn gekannt hatten. Das ging längst über das anfängliche Gefühl der Sympathie hinaus, mit dem ich die Fotografien auf dem Friedhof von Portbou gemacht hatte. Bei meinen Nachforschungen lernte ich Rolf Tiedemann kennen, damals Leiter des Theodor W. Adorno Archivs in Frankfurt am Main. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, wie schwer es war, Zugang zum Archiv zu bekommen. Zunächst musste man Formulare ausfüllen und hinschicken. Daraufhin wurde entschieden, ob man zugelassen wurde oder nicht. Wie man sieht, wurde ich zugelassen. Aber noch mehr: Rolf Tiedemann schrieb einen Text für die Ausstellung mit dem Titel „Diesseits von Auschwitz“. Er wurde später auch übersetzt in der Tageszeitung „El País“ veröffentlicht. Ich lernte außerdem Elfriede Olbrich kennen, die ehemalige Sekretärin von Th. W. Adorno, sowie das Gebäude des Instituts für Sozialforschung in der Senckenberganlage, wo Horkheimer und Adorno vor und nach dem Krieg gearbeitet hatten. Elfriede Olbrich verhalf mir zu einer Tonbandaufnahme mit einigen der Radiosendungen für Kinder von Walter Benjamin, die 1932 gesendet worden waren. In der Ausstellung waren sie wieder zu hören.

 

            Endstation Portbou wurde zuerst in der Kapelle des Hospital de la Santa Creu in Barcelona (1990) gezeigt und dann im Historischen Museum der Stadt Frankfurt am Main (1991). Es war meine erste Ausstellung in Deutschland. Ungeachtet der Bedeutung Walter Benjamins musste das Projekt mit einem winzigen Budget auskommen (auch eine Konstante in meiner Arbeit). Für die Kosten kam ganz persönlich Joan Moncau von der Firma Croquis auf, ein renommierter Ausstellungsdesigner aus Barcelona. Er baute die Brücke und alle weiteren Elemente des fiktiven Grenzübergangs. Ich selbst steuerte die Fotos aus den Pyrenäen bei. Die fünf in die Landschaft montierten Schilder mit Schlüsselbegriffen Walter Benjamins wirkten zweifellos befremdlich. Das Ineinander hatte aber mit den zwei Fragen zu tun, die ich mir damals stellte. Ich wollte wissen, welche Landschaften Walter Benjamin zuletzt gesehen hatte und welche Begriffe für ihn besonders wichtig waren. Natürlich wählte ich darunter die Begriffe aus, die für mich die größte Bedeutung hatten. Als ich darüber nachdachte, wie ich diese Begriffe am besten darstellen könnte, fiel mir das in vieler Hinsicht bemerkenswerte Buch Einbahnstraße (1928) ein und vor mir erschien das Bild der alten Straßenschilder in deutschen Städten. Ich machte mich also, ohne die Kosten zu scheuen, in Deutschland auf die Suche nach einer Werkstatt, die diese blau emaillierten Schilder herstellen konnte und ließ sie mir zuschicken. Es schien mir unerlässlich, dass die Schrifttype und die Emaillierung so waren wie bei den Straßenschildern zu Benjamins Zeit. Außerdem ließ ich in eine Steinplatte den Namen Detlef Holz, ein Pseudonym Walter Benjamins, einmeißeln – als fiktives Denkmal.

 

            Ich verrate kein Geheimnis wenn ich darauf hinweise, dass die ganze Installation in gewisser Weise eine erfundene Biografie darstellte. Mich interessieren die Symbole, die Ikonografie. Ich bin weder Dokumentarist noch Historiker. Ein weiteres, eher symbolisches Element der Ausstellung bildeten vier Stempel, wie man sie in Büros benutzt, mit Zitaten aus den Thesen Über den Begriff der Geschichte und anderen Essays Walter Benjamins. Damit wollte ich den nützlichen und immer wieder verwendbaren Charakter der Texte verdeutlichen. Übrigens spielten auch die Stempel wieder mit dem Doppelcharakter der Lesart. Es gab das Negativ und den positiven gestempelten Text, Transparenz und Schatten, Kopf und Zahl. Teil der Installation war auch ein großes Heft in schwarzem festen Einband mit fotokopierten Manuskripten Walter Benjamins und darüber geklebten Fotos von Portbou. Bei näherem Hinsehen konnte man feststellen, dass sich immer wieder die gleichen Manuskriptseiten wiederholten. Das hing damit zusammen, dass ich nur die Erlaubnis zur Reproduktion jener zwei oder drei Seiten erhalten hatte. Da musste ich auf den Fälschungstrick der wiederholten Kopien zurückgreifen, um das erfundene Manuskriptheft zusammenzustellen.

 

            Seitdem ist viel Zeit vergangen, genau 23 Jahre. Nichtsdestotrotz sind mir die Begeisterung und der Mut immer noch gegenwärtig, die zur Verwirklichung dieses Projekts nötig waren. Drei Teile habe ich noch: das Heft, die Stempel und die Metallschilder. Alles Übrige habe ich einem Verein von Arbeitslosen gestiftet, der sich Can Revifa [Neues Leben] nannte und schon das Recyceln auf seine Fahnen geschrieben hatte, als dieses Konzept gerade erst aufkam.

 

 

block W.B. La idea de un pensamiento que crea imágenes (block W.B. Die Idee eines Denkens, das Bilder erzeugt), 2006

 

Im fünften hier in meiner Retrospektive präsentierten Projekt suchte ich ganz entschieden den Dialog mit den wesentlichen Begriffen Walter Benjamins. Die Ausstellung block W.B. wurde 2006 im Obergeschoss des Museums von Granollers eröffnet. Zuvor habe ich daran monatelang mit einem Team gearbeitet, es war eine authentische Werkstatt, ein work in progress. Seine methodologischen Prinzipien basierten auf zentralen benjaminschen Konzepten wie dem des Fragments, des Zitats und des offenen Prozesses. Natürlich gibt es die Installation in ihrer Gesamtheit nicht mehr. Geblieben sind die Videos und die Dokumentation auf der Website http://www.blockwb.net/.

 

            Das alles verbindende und strukturiende Konzept des Projekts hatte ich in den (mir damals bekannten) 18 Thesen Über den Begriff der Geschichte gefunden. Ihnen entsprachen 18 Computerbildschirme, auf denen thematisch angeordnet audiovisuelles Archiv-Material meiner direkt oder indirekt mit der Person und dem Werk Walter Benjamins verbundenen Arbeiten zu sehen war. Jede Themengruppe stand in Beziehung zu einem Schlüsselsatz aus den Thesen. Gliedernd fungierten Konzepte wie Erinnern und Vergessen – die Flüchtigkeit des Vergangenen – Spuren – Passagen – die Geschichte der Opfer – Schmerz – Zivilisation und Barbarei – Fortschrittskritik – utopische Überschreitung – alles Begriffe, in denen meine künstlerische Tätigkeit sich mit dem Denken Walter Benjamins traf. Es ging mir darum, meine bisherigen Arbeiten im Licht der Gegenwart neu zu verstehen und neu zu überdenken.

 

            Die Thesen Über den Begriff der Geschichte, der letzte Text, an dem Walter Benjamin gearbeitet hatte, sind für mich von unschätzbarer Bedeutung, denn sie bieten eine Theorie der historischen Erinnerung, die meinen Bemühungen um die Rettung der verschwiegenen und vergessenen Geschichte sehr nahe steht, vor allem, weil sie die Konstruktion der Geschichte aus der Perspektive der Opfer fordern. Hier gibt es eine ganz enge Berührung zu meinen Projekten.

 

            Im Granollers standen die Bildschirme auf einem langen spiralförmig gebogenen Tisch. Die Form der Spirale kommt immer wieder in meinen Kindheitserinnerungen vor, zum Beispiel in dem Bild einer spiralförmig geschnittenen Orangenschale. Wir trockneten die Schalen, um daraus einen Tee zuzubereiten. Auch die Erinnerung an eine bestimmte Blätterteigschnecke, die wir sonntags mit der ganzen Familie aßen, verbindet sich mir mit der Form der Spirale. Wir wissen aber auch, dass die Spirale, als Labyrinth aufgefasst, ein äußerst wichtiges Bild für die Erfahrung in Benjamins Denken darstellt. Er sagt, das Labyrinth sei das Vaterland der Zweifler. Charakteristisch für die Spirale ist ihre offene Form. Immer kann Luft von außen in sie eindringen. Was sich in ihr befindet, gerät also in Berührung mit dem Äußeren und kann den Innenraum verlassen. Ich denke dabei an das Andere, mit dem meine Arbeit in Berührung kommt. Die Spirale repräsentiert eine nicht lineare Form der Erfahrung, eine undeterministische Form, und das ist ganz außerordentlich. Man findet sie in der Natur, zum Beispiel in einer Schnecke, in einem Fingerabdruck und in vielen anderen Dingen. Sie übt eine große ästhetische Anziehungskraft auf mich aus und interessiert mich zutiefst.

 

            2008 bot mir das Institut Ramon Llull in Zusammenarbeit mit dem Instituto Cervantes die Möglichkeit, die Installation block W.B. in Berlin zu zeigen. Dafür entwarf ich ein Plakat, wo ich in einen Stadtplan von Berlin einige kleine Zeichnungen Walter Benjamins einblendete. Inspiriert durch Hannah Arendts Porträt des Philosophen als „Perlentaucher“ markierte ich mit Perlen die Orte, wo Benjamin gelebt hatte oder zur Schule gegangen war. In der glänzenden Oberfläche der Perlen schimmerten die Fassaden der Gebäude, die sich heute an diesen Stellen befinden. Ganz gegenwärtig ist mir auch ein Satz aus der Einbahnstraße, den Hannah Arendt zitiert: „Zitate in meiner Arbeit sind wie Räuber am Weg, die bewaffnet hervorbrechen und dem Müßiggänger die Überzeugung abnehmen.“ So etwas in der Art möchte auch ich mit meiner Arbeit erreichen.

 

            Wenn ich mir heute das gesamte Projekt vergegenwärtige, dann scheint es mir, dass dieses Stück block W.B. eine gründliche Reflexion über das benjaminsche Denken und seine Beziehung zu meinen Arbeiten darstellt.

 

 

Mummerehlen, 2012

 

In meinem letzten Walter Benjamin gewidmeten Projekt habe ich mich nicht mit seinen Texten, sondern mit seinen Zeichnungen befasst. Dabei hatte ich den Eindruck, das wir uns endlich auf gleicher Ebene begegneten. Hier stelle ich eines der fünf Blätter aus dem Zyklus Korrespondenzen vor. Ausgangsbasis der Serie sind fünf bisher noch unveröffentlichte Manuskriptseiten Walter Benjamins (ausgewählt aus einem freundlicherweise vom Walter Benjamin Archiv in der Akademie der Künste, Berlin, und seinem Leiter Erdmut Wizisla angebotenen Konvolut). Es war meine Absicht, den Dialog mit Walter Benjamin durch eine Arbeit über seine Zeichnungen abzuschließen. Seit langem üben sie eine große Anziehungskraft auf mich aus und ich halte sie für eine Ausdrucksform des Denkbilds oder des „Denkens, das Bilder erzeugt“, die ich nicht übergehen konnte.

 

            Im Grunde genommen ist mein Stück Mummerehlen ganz klar. Das Blatt bezieht sich auf die Brücke, die an den Rand des Manuskripts Nr. 1376 gezeichnet ist. Viele Handschriften Benjamins enthalten Zeichnungen, ohne dass man weiß, warum der Autor sie dorthin setzte. Ich halte es für ziemlich normal, dass jemand etwas zeichnet, wenn er einen Stift in der Hand hält. Oft entstehen dann Labyrinthe. Aber diese so deutlich erkennbare Brücke am Rand eines Textes, mit dem sie scheinbar nichts zu tun hat, wirkt eher absurd. Bei den anderen von mir ausgewählten Manuskripten ist es leichter, eine Beziehung herzustellen. Hier hingegen faszinierte mich eben gerade die außergewöhnliche Tatsache, dass man keine Beziehung feststellen kann. Es fehlt völlig der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, den die Leute normalerweise suchen. Daher dachte ich, dass ich genau dem Gefühl der von dem Manuskript ausgelösten Überraschung entsprechen müsse und tat etwas ganz Einfaches. Ich griff auf eine vor Kurzem gemachte persönliche Erfahrung zurück. Die will ich erzählen. Es bot sich mir die Möglichkeit eine Zeit lang in Albons, einem kleinen Ort im Baix Empordà (Niederampurien), zu leben. Dort konnte ich zwei Jahre lang die Landschaft mit all ihren klimatischen und jahreszeitlichen Veränderungen betrachten, eine ganz neue, nie gemachte Erfahrung. Seltsamerweise stand genau vor unserem Haus eine Straßenlaterne. Wer hätte damit gerechnet, mitten in der Natur auf eine Straßenlaterne zu stoßen? Das war genauso unerwartet wie die gezeichnete Brücke im Manuskript von Walter Benjamin. Daher beschloss ich, die Laterne in mein Projekt aufzunehmen. Ich wollte die Geschichte der Laterne erzählen und machte eine Reihe von Fotos. Zwei Jahre lang entstanden viele Aufnahmen von dieser Landschaft. Das Licht ging an und aus. Es wurde Nacht und es wurde Tag. Vögel setzten sich auf die Laterne, sogar ein Käuzchen – Minerva – kam und schaute. All das war überraschend. Natürlich war es nötig, dauernd mit geschärftem Beobachtersinn bereit zu sein, um zu sehen, was ich sah. Meiner Meinung nach besteht ein Aspekt der Kunst darin, genau zu beobachten, welches Element, so absurd es auch scheinen mag, sich als zentrales Thema einer im Entstehen befindlichen Arbeit eignet.

 

            Ich assoziierte die Zeichnung der zusammenhanglosen Brücke mit dem Fantasiewort „Mummerehlen“, denn auch das ist Resultat einer Herauslösung aus dem Zusammenhang. Benjamins Erzählung in seinem autobiografischen Buch Berliner Kindheit um Neunzehnhundert zufolge entstand es dadurch, dass das Kind den Namen der in einem Vers erwähnten „Muhme Rehlen“ nicht richtig verstand. Das Missverständnis brachte eine Sprachschöpfung hervor. Mit seinen ausgedachten Wörtern konnte das Kind die Wirklichkeit auf eine Weise interpretieren, die es ihm ermöglichte, an ihr teilzuhaben. Ich finde es bemerkenswert, dass ein Missverständnis die Quelle der Schöpfung von etwas Neuem sein kann. Diese Beobachtung bietet einen Ausgangspunkt. Das Denken ist wie eine „Dämmerung“ (Morgen- und Abenddämmerung), eine Zeitspanne, eine Übergangszeit, wo etwas zu Ende geht und etwas beginnt, eine Passage. Was sich in diesem Übergang befindet, mag eine Brücke sein. Für mich war es die Minerva auf der Laterne, für jemand anderen ist es wieder etwas anderes.

 

            Vielleicht wird jetzt klar, warum ich Dinge mag, die Befremdung erzeugen, wie das Theater von Bertolt Brecht oder die Tanzstücke von Pina Bausch; sie gefallen mir gerade wegen der absurden Momente in ihnen. Ein Schauspieler ist nicht bloß ein Schauspieler, eine Tänzerin ist nicht bloß eine Tänzerin – sie sind noch viel mehr. Mit dem Konzept der Mimesis hingegen kann ich nicht viel anfangen. Ich stelle mich der Herausforderung, etwas Neues zu schaffen. Allen widrigen Umständen zum Trotz möchte ich immer noch glauben, dass Neues gefunden werden kann und dass ich dazu in der Lage bin. 1972 ging ich in die USA, genau aus dem Grund, um etwas Neues zu finden. Mich reizt das, was noch nicht existiert. Ich möchte den Horizont des Möglichen abtasten. Daher rührt auch mein Interesse für Ernst Bloch, dem ich ein anderes Projekt widme.

 

Mein Verhältnis zu Walter Benjamin hat sich im Laufe der Jahre verändert. Manchmal war er mir ganz nah, manchmal weniger. Manchmal sehe ich ihn in einer Landschaft, manchmal drängt sich die Erinnerung an einen glücklosen Mann in den Vordergrund, dem all das geschah, was uns bekannt ist. Er starb ungehört. Mit der Zeit habe ich eine große Zuneigung zu ihm entwickelt, er gehört nun zu meiner Familie. Ich habe in Walter Benjamin einen Freund fürs Leben gefunden und an meinem Tisch ist immer ein Platz für ihn.

 

Transkription von Claudia Kalász, basierend auf einem
Gespräch mit Francesc Abad, aufgenommen am
17. September 2013 in Barcelona

 

Der Text stellt die vollständige Fassung eines kürzeren Artikels dar, der in der Zeitschrift „La Maleta de Portbou“ Nr. 6, Juli/August 2014 (Barcelona) zusammen mit den Illustrationen der erwähnten Projekte erschienen ist.

(http://www.lamaletadeportbou.com/).

 

Das Gespräch wurde auf Katalanisch geführt, der Text für die Zeitschrift aber auf Spanisch verfasst. Die spanische Langfassung befindet sich auf der Website http://www.mural-abad.net/index.html

 

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