DAS LABYRINTH DER ERFAHRUNG
[33] Denktagebuch Textausschnitt aus W. Benjamin, Berliner Chronik
Mit Hervorhebungen von F. A. Unter dem Text notiert er:der Gedanke, ein graphisches Schema meines Lebens zu zeichnen.Am Rand vermerkt er zwei Wörter:1 Gedanke, 2 Labyrinth.
„und der Schleier, welchen sie [die Erinnerung] im Verborgnen aus unserm Leben gewirkt hat, weniger die Bilder der Menschen als die der Schauplätze zeigt, an denen wir andern oder uns selbst begegneten. An dem Nachmittag nun, von welchem ich reden will, saß ich im Innenraum des Cafés des deux magots bei St. Germain des Prés, wo ich – wen habe ich vergessen – erwartete. Da kam mit einem Male und mit zwingender Gewalt der Gedanke über mich, ein graphisches Schema meines Lebens zu zeichnen und ich wußte im gleichen Augenblick auch schon genau wie das zu tun sei. Es war eine ganz einfache Frage, mit der ich meine Vergangenheit durchforschte und die Antworten zeichneten sich wie von selber auf ein Blatt, das ich hervorzog. Ein oder zwei Jahre später als ich dieses Blatt verlor, war ich untröstlich. Nie wieder habe ich es so herstellen können, wie es damals vor mir entstand, einer Reihe von Stammbäumen ähnlich. Jetzt aber, da ich in Gedanken seinen Aufriß wieder herstellen möchte ohne ihn geradezu wiederzugeben, möchte ich lieber von einem Labyrinth sprechen. Was in der Kammer seiner rätselhaften Mitte haust, Ich oder das Schicksal, soll mich hier nicht kümmern, umso mehr aber die vielen Eingänge, die ins Innere führen. Diese Eingänge nenne ich Urbekanntschaften; ihrer jeder ist ein graphisches Symbol meiner Bekanntschaft mit einem Menschen, den ich nicht durch andere Menschen, sondern sei es durch Nachbarschaftsverhältnisse, Verwandtschaft, Schulkameradschaft, Verwechslung, Reisegenossenschaft – es gibt nicht allzu viele solcher Situationen – begegnet war.“ (GS VI, S. 491)
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